Von Tauschräumen und Raumträumen
Es riecht angenehm kühl nach Mauerwerk im Tauschraum. Ich schlendere an den weißen Metallregalen vorbei, an den ausrangierten Büchern, Schuhen, Kaffeetassen und Duftkerzen, betrachte eine weiße Kommode und durchstöbere die provisorische Kleiderstange.
Alle Arten von gebrauchten und nicht-mehr-gebrauchten Gegenständen sammeln sich hier - und warten darauf, getauscht zu werden. Viele dieser Dinge bringen eine Atmosphäre mit, eine Vorstellung von den Menschen, die sie besessen haben und den Räumen, in denen sie bisher Platz gefunden haben. Für manche von ihnen drängt sich mir eine Vorstellung des Raumes, aus dem sie stammen könnten, beinahe auf. So wie für die schon etwas vergilbte Ausgabe des alten Klassikers „Der Untergang des Abendlandes“, von dessen eingerissenen grasgrünen Einband mir das hagere Denker-Gesicht des Verfassers seine stechenden Blicke entgegenschickt. Ich muss an einen meiner Dozenten denken, der oft und gerne die etwas altertümlichen Klassiker der Altphilologie aus dem 19. Jahrhundert zitierte. Etwas von der seltsamen Atmosphäre, die diese alten Aufsätze durchdringt, eine Mischung aus Pathos, Getragenheit und Scharfsinn, schien mir immer auch entgegenzuschlagen, wenn ich das Büro dieses Dozenten betrat. Natürlich standen dort nur kunststoffbeschichtete Tische, die PVC-Böden zeigten ihre Patina im erbarmungslosen weißlichen Licht und die verschmierten Fenster öffneten sich auf eine Front grauer Bürogebäude - aber die Bücherregale füllten vergilbte Bände, auf dem Tisch und den altmodisch gepolsterten Stühlen sammelten sich Bücher und Papiere. Dieser Anblick ließ mich immer noch an einen anderen Raum denken, an das dunkle Arbeitszimmer Thomas Manns mit den schweren, steifen Möbeln, dem Schreibtisch aus schwärzlich glänzendem Holz und den Bücherregalen, die die Wände bis zur Decke bedecken. Wie Thomas Mann in einer Szene aus Klaus Manns Autobiographie musste auch mein Dozent in einer Geste von Zerstreutheit und Selbstironie oft erst einige Bücherstapel von den Stühlen nehmen, bevor er mich bat, mich zu setzen.
Oder: dieser Stapel russischer DVDs, den ich auf einem der weißen Regale entdecke. Sicherlich kommen sie aus einem Raum mit kahlen, weißen Wänden, den eine bleiche Neonröhre durchleuchtet. In der Mitte dieses Zimmers, stelle ich mir vor, steht unvermittelt eine weiche, durchgesessene Stoffcouch mit braunem Überwurf, ein Fernsehgerät ist ihr einziges Gegenüber. Ein kleiner, einfacher Holztisch mit zwei Stühlen drückt sich eng an die Wand, um das Herrschaftsmonopol der Couch über den leeren Raum nicht zu beschneiden. Eine andere Wand nehmen zur Hälfte die ärmlichen Regale und ehemals weißen Geräte einer Küchenzeile in Anspruch. Solche kahlen, schutzlosen Räumen haben sicherlich auch schon die Protagonisten aus Dostojewskis „Schuld und Sühne“ bewohnt, denke ich im Vorübergehen …
Die farbigen Bände eines Taschenbuchlexikon hingegen wecken für mich die Assoziation einer Wohnung in einem oberen Stockwerk eines Hauses aus den 1960er Jahren. Von dem langen, schlauchartigen Flur zweigen rechts und links helle Räume mit großen Fenstern ab. Die Küche ist im Stil alter Studenten-WGs aus verschiedenen gebrauchten Stücken zusammengesetzt, auf dem Fensterbrett stehen Töpfe mit Basilikum und Petersilie. Vor vierzig Jahren haben die Bewohner dieser Räume vielleicht Hörsäle besetzt und nächtelang mit Freunden geraucht und diskutiert. Jetzt tragen sie beide kleine runde Brillen, durch die sie verschmitzte, kluge und ein bisschen scheue Blicke auf die Welt werfen. Abends sitzen sie vielleicht zusammen im letzten Zimmer der Wohnung in ihren abgewetzten, grün gepolsterten Sesseln und lesen im friedlichen Schein einer Stehlampe in der „Zeit“, und manchmal auch ein paar Beiträge aus dem „Kursbuch“.
Nicht ganz sicher bin ich mir, wie der Raum aussehen könnte, aus dem die Schrankteile stammen, deren Ausmaße auf ein Stück von beeindruckenden Dimensionen mit einer breiten Spiegelfront schließen lassen. Denkbar ist das ebenfalls etwas überdimensionierte Elternschlafzimmer einer kinderreichen Familie in einer jener Doppelhaushälften, in denen die Zimmer vor Kuscheltieren und Spielzeugautos so überquellen wie die Kühlschränke von gefrorenem Gemüse und Fertigpizzen. Vielleicht handelt es sich aber auch um diese inzwischen seltene Spezies großmütterlicher Kammern, denen die muffige Atmosphäre dicker roter Vorhänge und über die Jahre welliger Teppichböden entströmt. Dann hing in diesem Schrank wohl vor kurzem noch, neben einem unechten Pelzmantel und den Virginia Woolf-Hauskleidern, Opas mottenzerfressene Uniform aus dem zweiten Weltkrieg.
Woher sie auch immer kommen - für all diese Dinge ist es Zeit, in neue Räume aufzubrechen, in neuen Konstellationen einen Platz zu finden und sich zu neuen Atmosphären zu verbinden. Und für mich ist es Zeit, mein mitgebrachtes Halstuch und meine „kleine Literaturgeschichte“ zu tauschen – und von neuen Räumen zu träumen.
Barbara Keil
Barbara Keil studierte Lateinische und Griechische Philologie sowie Neuere Deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie lebt und arbeitet in München.