Matthias Stuchtey – selfstorage
Redemanuskript von Dr. Birgit Möckel zur Eröffnung der Ausstellung "selfstorage" von Matthias Stuchtey in der Galerie im Rathaus Tempelhof, Berlin
Sehr geehrte Frau Kaddatz, liebe Frau Esch Marowski, Matthias Stuchtey und alle, die Sie zu dieser Eröffnung gekommen sind.
Es freut mich, mit dieser Ausstellung nicht nur diesen Ort, sondern auch den Künstler Matthias Stuchtey kennenzulernen und vorzustellen, der hier im kongenialen Zusammenspiel mit der Architektur von Willy Kreuer einen konzentrierten Einblick in sein aktuelles Schaffen gibt (das vielleicht später im Hinausgehen nach dieser Vernissage auch die „Formengruppe“ von Gerson Fehrenbach im Außenbereich mit neuen Augen sehen lässt).
Matthias Stuchteys raumbezogene Objekte, Installationen und Papierarbeiten finden eigene Ordnungen und Größen-Ordnungen, die den von ihm erdachten „Einsichten“ folgen. Sie entwickeln sich im freien Rhythmus entlang der Wände, greifen von dort in den Raum oder sitzen fest an einem ihnen mitgegebenen Halt, der sie frei im Raum und auf Augenhöhe –wie hier an der Treppe - als flexibles Blickachsen-Feld zwischen Decke und Boden verortet.
Matthias Stuchteys umfassende Raumkörper, seine „Schmarotzer“, wie er liebevoll jene Gehäuseakkumulationen nennt, die sich um diese Stangen schmiegen (genaugenommen sind auch diese Vierkantrohre langgestreckte Gehäuse), seine „Flotten Dreier“, so der ironische Titel jener Vielzahl an vielgestaltigen Modulen entlang der Korridorwand oder diese fein abgestufte und farblich abgestimmte Ordnung seiner „Dislocation“, deren Titel an Verwerfungen, Verlagerungen und damit verbundene Neuordnungen im umfassenden Sinne denken lässt, sind so flexible wie geheimnisvolle Gehäuse, die ihren Platz hier temporär besetzen.
Je nach Raumsituation lassen sich einzelne Partien ausdehnen, sei es durch Zusammensetzen einzelner Segmente je nach Breite einer Wand oder als räumliche Expansion in Richtung Betrachter. Auf diese Weise formieren sich die Strukturen zu langgestreckten weiten Panoramen oder verdichteten sich zu komplexen Kubaturen, deren Abfolge auch dem inneren Gefüge folgt.
Ausgangsmaterial für dieses Spiel mit Proportionen, geschlossenen und offenen Flächen, Volumina und nicht zuletzt Farben sind Möbelteile, Fundstücke oder andere Baumaterialien, deren Qualität nun für sich und als Teil einer neu geschaffenen räumlichen Struktur und Wirklichkeit steht – zu sehen (und in einem unscheinbaren Aufdruck auch zu lesen) beispielsweise in jener „Naturverpackung“ für Apfelsinen, die hier zu einem freien Spiel der einzelnen hölzernen Obstkisten-Bahnen im Rhythmus und Dialog mit der streng reliefierten Wandstruktur fand (und eigens hierfür geschaffen wurde).
Sicher haben viele unter Ihnen nicht nur an Namen wie „Ludvig“ oder „Kullen“, als Basis für einige der hier vorgestellten Werke auch den Fundus (und damit auch das Lager für Selbstabholer) eines hier um die Ecke ansässigen allseits bekannten schwedischen Möbelhauses ausgemacht. Wie viele „Ludvigs“ zur Herstellung dieser Abfolge von vor- und rückspringenden Räumen und Zwischenräumen, Linien und Kanten, glatten und rauen, offenporigen und versiegelten Flächen vonnöten waren, ist nicht mehr nachvollziehbar. Mit dem Stuchteyschen „Ludvig“ sind jedoch all jene normierten Ikea-Ausgangsteile in weite Ferne gerückt, deren Form und äußere Gestalt sich nicht nur dem transportablen Design, sondern auch der Funktion der konstruktiven Elemente unterordnen müssen. Und dennoch tragen sie in den sichtbaren Spuren das Gedächtnis an jene flexiblen Möbel und viele Generationen Nutzung und Nutzer mit sich.
Was wir mit „Naturverpackung“ und „Ludvig“ vor uns sehen, ist das freie Spiel von lichten und dichten Platten, teils glänzend, teils matt, mit unterschiedlichsten Öffnungen und Spuren, die ein neues Eigenleben entwickeln, an architektonische Modelle wie an gebaute Architekturen denken lassen und am Ende – im vollendeten Werk - ihr eigenes körperhaftes Erscheinen vor Augen führen. Je nach Perspektive wandelt sich der Maßstab: sei es aus der Ferne, aus der Vogelperspektive oder aus der Nähe, wenn wir versuchen einen Blick in das Innere zu erhaschen, das doch immer verborgen, geborgen und ein Geheimnis bleibt. Der Kern ist ein stetes Changieren zwischen realem und gedachtem Raum als so stringentes wie freies Spiel der hier vorgestellten Bedeutungsebenen oder Wirklichkeiten.
Mit dieser Realität ist immer auch das Material und nicht zuletzt dessen Geschichte verwoben. Nichts geht verloren im System der „Rohbauten“, „Baukörper“, „Raumöffner“ und „Erinnerungen“, wie Matthias Stuchtey seine selbst zusammengestellten Werk-Dokumentationen benennt. Aus jeder Aussparung, jeder Öffnung, jedem Abschnitt entsteht ein neues Teil, das der Bildhauer zu neuen Raumfolgen zusammen fügt, die damit nicht zuletzt auch ihre eigene Entstehungsgeschichte, in sich tragen. Und dieses Prinzip gilt genauso für die hier ausgestellten Papierarbeiten.
Nichts geht verloren in diesem stets wachsenden und sich wandelnden Prozess der Erneuerung, Wiederbelebung, Neuordnung alter oder bekannter Strukturen. Nicht nur Bilder speichern Erinnerungen. Auch Material steht für diesen Prozess. Gerade im hier gezeigten Wechsel zwischen den Bedeutungsebenen Modell und Wirklichkeit zeigen sich übergeordnete Prinzipien. Gehäuse sind immer auch Schutzräume, offen für Gedanken. Räume sind Speicher für alles, was wir bewahren wollen, weit über die Dinglichkeit des Realen hinaus.
„Selfstorage“, d.h. „selbst speichern“ und das im eigenen abgeschlossenen Speicherraum, verheißt der Titel dieser Ausstellung. Mit diesem neudeutschen Wort, das kaum eine Übersetzung findet, klingt auch der eher altmodische Begriff des Speichers an - im Sinne des immer häufiger fehlenden Lagerraums im Dachboden – um gleichzeitig an virtuelle Speicherräume und grenzenlose Kapazitäten zu erinnern, die als kollektiver stets wachsender Gedächtnisspeicher all überall zur Verfügung stehen. Auch „Ludvig“ (und das ist in diesem Zusammenhang durchaus erwähnenswert) sollte eigentlich die Last (oder das Gewicht) eines Computers und das mit ihm gespeicherte Wissen tragen. Nun fordert er uns -in Einzelteile zerlegt (oder gepixelt) - zum eigenen analogen und nicht zuletzt zeit-räumlichen Denken.
Damit erinnert „selfstorage“ auch an das eigene Gedächtnis, als autonome Einheit und pulsierender Speicher für Ideen, Konzepte, Erinnerungen, die stets neue Wege finden, sich zu äußern und sich Gegebenheiten anzuverwandeln – ganz wie diese Gehäuse von Matthias Stuchtey - als Gedankenmodelle, Gedankenspeicher und umfassende Metaphern von alltäglicher, ganz realer Dinglichkeit, die immer neu von jedem selbst wahrgenommen werden wollen.
Viel Freude nun bei Ihren eigenen Entdeckungen und Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Birgit Möckel
Dr. Birgit Möckel ist Kunsthistorikerin, Kuratorin und Autorin, sie lebt in Berlin.
Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Literaturwissenschaften in Karlsruhe und München, 1996 Promotion an der Universität Karlsruhe mit einer Arbeit über das amerikanische Werk von George Grosz, seit 1992 als Autorin und Kuratorin an zahlreichen Ausstellungen beteiligt, 1994 – 1998 wissenschaftliches Volontariat und freie Mitarbeit an der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, seit 2006 Lehrbeauftragte für Kunstgeschichte an der FH Potsdam, Kuratoriumsmitglied der Stiftung „Ann Wolff Collection“, Berlin, Kuratorin der Stiftung „Zufall und Gestaltung“ Berlin, Vorstandsmitglied des Freundeskreises der Bernhard-Heiliger-Stiftung, Berlin, seit 2012 Vorstandsmitglied Kunstverein KunstHaus Potsdam.